Warum bin ich so kaputt? – Stress ist nicht gleich Stress

“Ich bin so kaputt.“ „Aber wovon denn?!“, fragte mich die damalige Projektleitung. Völlig nachvollziehbar. Das Projekt war in dieser Phase, in der es für mich nicht allzu viel zu tun gibt – die erste und mittlere Phase, in der das Projekt aufgesetzt wird, das Team sich beweisen und Ergebnisse liefern muss, waren vorbei und die Abschlussphase in der „aufgeräumt“ und alles sauber übergeben werden muss, hatte noch nicht angefangen. Wir konnten durchatmen aber ich fühle mich ausgelaugter denn je.

Ich fühle mich unproduktiv und konnte meine Erschöpfung vor mir selbst nicht rechtfertigen. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt und hatte ein Gefühl, konnte es noch nicht in Worte fassen. Durch meine Meditationserfahrung konnte ich in dieses Gefühl rein hören und das Bild wurde immer klarer: Ich sah keinen Sinn mehr in meiner Beschäftigung und sehne mich danach den Tag selbstbestimmt zu verbringen. Es wurde deutlich, dass ich in letzter Zeit einen Widerstand aufgebaut hatte, meiner Arbeit nachzugehen und dass es mich unglaubliche Energie kostete, diesen Tag für Tag zu überwinden.

Am Anfang des Projektes war ich hoch motiviert und auch wenn ich viel mehr arbeiten musste, fühlte ich mich nicht kaputt. Ich konnte beobachten wie viel wir bewirkten und beispielsweise dazu beitrugen, die Krankenquote einer Abteilung zu halbieren. Danach war nicht mehr so viel zu tun und an manchen Tagen saß ich einfach nur meine Zeit ab – so fühlte es sich zumindest an. Eigentlich hätte ich mich einfach ein bisschen zurücklehnen und entspannen können. Dieses fremdbestimmte für mich sinnlose Arbeiten fühlte sich für mich jedoch wie purer Stress an. Ich fragte mich, warum wir Stress so vollkommen unterschiedlich empfinden und recherchierte drauf los.

Ereignisse werden unterschiedlich interpretiert

Nach Albert Ellis‘ ABC Modell – Activating experiences, Belief, Consequenses – für die Entstehung von Emotionen und Verhaltensweisen, findet nach einem Ereignis eine eigene Bewertung und Interpretation der Situation statt, die wiederum das Verhalten und die Gefühle einer Person auslösen. Wir handeln also nicht reflexartig, sondern beurteilen die Lage ganz individuell, wodurch ganz unterschiedliche Gefühle und dadurch Handlungen ausgelöst werden. In dieser kleinen Pause zwischen Reiz und Reaktion haben wir die Wahl wie wir auf etwas reagieren, auch wenn es uns nicht so erscheint, da diese sehr kurz ist. Diese Pause bewusst zu nutzen kann in Meditationssitzungen trainiert werden, sodass wir mehr Kontrolle über unsere Gefühle bekommen. Dadurch lernen wir einen bewussteren Umgang,  statt uns von ihnen beherrschen zu lassen.

Im sogenannten „Learned Helplessness Test“ aus 1970 wurde der unterschiedliche Umgang mit Stress untersucht, in dem das Individuum keine Kontrolle über die Situation hat.

In dem Experiment wurde ein Hund in einem Käfig gehalten. Der Käfig war in der Mitte unterteilt und hatte auf der einen Seite einen Metallboden und war auf der anderen Seite mit Teppich ausgelegt. Man stellte den Hund auf den Metallboden und lies Stromstöße hindurchströmen. Der Hund lief natürlich auf den Teil, der mit Teppich ausgelegt war und die Stromstöße dämmte, um dem Schmerz zu entkommen. Nach einigen Versuchen schloss man den Durchgang zu der anderen Seite des Käfigs, sodass der Hund nicht mehr wechseln konnte. Sobald die Stromstöße wiedereinsetzten, versuchte der Hund auf den Teppich zu gelangen, merkte jedoch, dass es nicht mehr möglich war. Er versuchte es weiter und weiter und gab schließlich auf. Er legte sich auf den Metallboden und akzeptierte den Schmerz der Stromstöße.

Nach vielen Wiederholungen wurde der Durchgang erneut geöffnet. Der Hund konnte wieder auf die andere Seite aber er rührte sich nicht von der Stelle. Man zeigte auf den offenen Durchgang und versuchte den Hund dazu zu bewegen auf die andere Seite zu gehen aber er blieb trotz Schmerzen auf dem Metallboden liegen. Er hatte Hilflosigkeit erlernt und sich damit abgefunden, dass er nichts an der Situation ändern kann.

Der Test sollte zeigen, dass manche Menschen sich in einem Zustand erlernter Hilflosigkeit befinden. Die Erkenntnisse aus diesem Experiment lassen sich unter anderem auf Menschen aus gewalttätigen Haushalten übertragen. Manche Betroffenen geben auf und fangen an zu glauben, ihr Leben würde immer schwer und hoffnungslos sein und sie könnten nichts dagegen tun. Selbst wenn sie erwachsen und nicht mehr von den Eltern abhängig sind, schaffen sie es nicht ihre Situation zu verbessern.

Andere wiederum haben das Wissen in ihnen, dass nicht sie das Problem sind, sondern die gewalttätigen Eltern und dass das Leben besser wird sobald sie aus dem Haus sind. Sie haben ein Gefühl ihr Leben selbst beeinflussen zu können, was sie davor bewahrte in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Das Gefühl zu haben nicht selbstbestimmt handeln zu können, erhöht den Stress enorm, während eine selbst gewählte Situation auch unter schwierigen Umständen viel besser auszuhalten ist.

Durch Sinn den Stress umwandeln – finde dein „why“

Ich finde es faszinierend, dass die gleiche Situation einen Menschen brechen und antriebslos werden und einen anderen zu Größerem wachsen lassen kann. Ein unglaublich inspirierendes Beispiel dafür war Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, der während der NS Herrschaft in KZ Gefangenschaft genommen wurde. Er überlebte nicht nur vier verschiedene Konzentrationslager ohne seinen Lebenswillen zu verlieren, sondern verbrachte sein Leben damit seine lebensbejahenden Methoden zu lehren.

Als er gefragt wurde, was ihm die Kraft gegeben hat, die Zeit im KZ durchzustehen, sprach er davon wie wichtig es ist einen Sinn zu haben, dem man sein Dasein widmen kann. Viktor Frankl erzählte wie er während der Gefangenschaft fortwährend an seine Frau dachte und wie sehr er sie liebt. Er stellte sich vor sie erneut zu heiraten sobald sie beide aus den KZs rauskommen und plante die zweite Hochzeit bis ins letzte Detail. Er konzentrierte sich auf die Servietten, das Besteck und alle winzigen Einzelheiten. So konnte er seine Gedanken von dem ihn umgebenen Horror ablenken.

„He who has a why to live can bear with almost any how.”, Viktor Frankl.

Als er aus dem Konzentrationslager befreit wurde, musste er feststellen, dass seine Frau nicht überlebt hatte…

Er machte sich auf die Suche nach einem neuen „Why“ und gründete eine Schule für sonderpädagogische Förderung dessen Leitbild „das Vertrauen in die unbedingte Sinnhaftigkeit des Lebens, in die Würde der Person und in […] den Willen zum Sinn“ darstellt.

Nach diesem extremen und emotionalen Beispiel möchte ich mich dem alltäglichen Stress widmen, dem wir heute ausgesetzt sind. Während der Fall von Viktor Frankl ein ganz besonderes Beispiel für psychische Widerstandsfähigkeit darstellt, haben auch wir die Wahl wie wir mit dem täglichen Stress umgehen.

Eine der meistzitierten Aussagen von Unternehmensberater und Autor Simon Sinek ist: „Working hard for something we don’t care is called stress. Working hard for something we love is called passion.” Wenn wir ein genaues Ziel vor Augen haben, das Gefühl haben den Prozess mitgestalten zu können und einen wirklichen Sinn in unserer Aufgabe sehen, sind wir manchmal selbst über unsere Leistungsfähigkeit erstaunt.

Die hohe Belastung empfinden wir nicht als Stress, wenn wir eine Aufgabe haben für die wir brennen und blühen darin sogar richtig auf. Genau das fehlte mir in dem Projekt. Ich sah keinen Sinn mehr in meiner Arbeit, konnte mein „why“ nicht mehr finden und sehnte mich nach Erfüllung. Die Arbeit wurde zu Stress.

Es ist deine Einstellung zum Stress, die dich stresst

Gesundheits Psychologin Kelly McGonigal berichtet, dass ein Einstellungswechsel zum Stress den entscheidenden Unterschied in unserer Gesundheit bewirken kann. Sie beschreibt eine Studie in der die Teilnehmer vorab gebeten wurden das Ansteigen des Herzschlages, den Schweißausbruch und alle weiteren Anzeichen von Stress, dem sie in dem bevorstehenden Versuch ausgesetzt sein werden, als etwas Positives zu sehen, das sie mit Energie erfüllt und hilft die Aufgabe zu bewältigen.

Ihnen wurde erklärt, dass der Körper sich so auf eine Herausforderung vorbereitet und das Gehirn durch das schnellere Atmen mit mehr Sauerstoff versorgt wird. Die Schweißausbrüche würden als Abkühlung einsetzt und durch den schnelleren Herzschlag würden sie mehr Energie bekommen. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Die Versuchsgruppe war nicht nur weniger ängstlich und viel selbstsicherer als die Testgruppe, welche diese Erklärungen nicht erhalten haben, die Teilnehmer reagierten auch körperlich anders. Während normalerweise Stresssituationen dazu führen, dass sich die Blutgefäße verengen, (weshalb Dauerstress auch zu Herzerkrankungen führen kann) haben sich ihre Blutgefäße in der Weite trotz Stresssituation nicht verändert. Ihr Herzschlag stieg zwar an aber die Blutgefäße wurden nicht enger. Interessanterweise sind das auch die Eigenschaften die auftreten, wenn wir Freude und Mut verspüren. Unsere Einstellung zu Stress macht also DEN entscheidenden Unterschied! Es kann den Unterschied machen, ob wir mit Mitte 50 einen Herzinfarkt erleiden oder ein gesundes und langes Leben führen.

Das nächste Mal, wenn wir also in einem Bewerbungsgespräch, einer Präsentation oder einem Date die nassen Handflächen und das Herzklopfen verspüren, werden wir nicht daran denken, wie ängstlich und verunsichert wir sind, sondern wie unser Körper uns für Höchstleistungen vorbereitet, damit wir unser Bestes geben können. Wir können uns Stress zu unserem Freund machen, statt ihn die ganze Zeit zu bekämpfen versuchen.

Mein Stress führte dazu, dass ich mich endlich mit der Situation auseinandersetzte und in mich reinhörte. Das ausgebrannte Gefühl zwang mich regelrecht dazu, nach meinem neuen „why“ zu suchen. Seitdem sehe ich Stress als etwas Positives, was meine Leistungen verbessert und mich zu meinem „why“ führt.

Lies in dem zweiten Teil des Artikels „Stress ist nicht gleich Stress“, warum Stress uns sozial macht und wie du trainieren kannst, mit Stress besser umzugehen.